Für eine Politik des Gemeinwohls

Alain Badiou im Gespräch mit Peter Engelmann

Peter Engelmann: Warum fällt es den Menschen heute so schwer, sich eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft vorzustellen?

Alain Badiou: Das große Argument ist, dass es keine moderne Alternative zum Kapitalismus gebe. Und das betrifft die Demokratie, das Leben in Frieden, die sexuelle Freiheit, die Freiheit der Sitten, die Stellung der Frauen usw. All das ist Teil der großen Propaganda des Kapitalismus, denn er ist es, der all das hervorgebracht hat.

Aber der Kapitalismus ist doch nicht dafür verantwortlich.

Natürlich ist er das. Mit Sicherheit.

Aber das ist der Diskurs, der die abendländische Kultur legitimiert.

Man könnte ihn im Großen und Ganzen den „demokratischen Diskurs“ nennen.

Gut, einverstanden. Aber was ist der demokratische Diskurs?

Eben das, was ich „Modernität“ nenne, d.h. im Grunde ein Diskurs der individuellen Freiheiten. Dieser Diskurs ist dominant. Und warum ist er dominant? Weil es ein Diskurs ist, der behaupten kann: „Seht doch! Nur in den entwickelten und globalisierten kapitalistischen Ländern gibt es die Demokratie! Kapitalismus und Demokratie sind also nicht von einander zu trennen, und ihr werdet den Kapitalismus wohl oder übel hinnehmen müssen, und zwar im Namen der Demokratie! Das große Versagen der sozialistischen Staaten – neben ihrer terroristischen und kriminellen Seite, die ja schon schlimm genug war – bestand darin, dass sie es nicht geschafft haben, sich als wirklich moderne Alternative zu präsentieren. Man muss eine neue Moderne erfinden.

Hast du Ideen diesbezüglich?

Aber ja, natürlich. Keine jener Freiheiten, die der Kapitalismus für sich reklamiert, ist nur innerhalb des Kapitalismus denkbar. Aber man sagt: „Es hat in einigen Ländern Versuche gegeben, den Kommunismus zu realisieren, was jedoch zum Verschwinden der üblichen demokratischen Freiheiten geführt hat, folglich ist der Kommunismus schlecht und nur der Kapitalismus vermag es, diese Freiheiten zu garantieren.“ Das ist der absolute Kern der zeitgenössischen Propaganda, und auch Du bist empfänglich für diese Propaganda.

Ja sicher! Aber das macht unsere Diskussion ja erst interessant. Ich bin dafür empfänglich. Und weißt du warum? Weil ich für all diese Freiheiten gekämpft habe, ich habe den Preis dafür bezahlt, genau wie alle anderen, die dafür gekämpft haben. Und wir alle haben die Erfahrung machen müssen, dass es keinem der sozialistischen Staaten gelungen ist, diese Freiheiten zu garantieren.

Anstatt dich mit dem Kapitalismus zu verbünden, hättest du lieber an der kommunistischen Hypothese festhalten sollen! Gerade weil du ein Opfer der sozialistischen Staaten gewesen bist!

Ja, vielleicht.

Aber sicher! Das ist ihr großer Sieg über Dich!

Na gut, Du kannst mich ja überzeugen, dass sie im Unrecht sind.

Es geht mir ja gar nicht darum Dich von irgendetwas zu überzeugen, sondern darum, Dir einsichtig zu machen, dass es im Moment keineswegs die Menschheit ist, die vom Fall der sozialistischen Staaten profitiert, auch nicht die Idee der Gleichheit oder der Freiheit, sondern die 264 Personen, die soviel besitzen wie die restlichen fünf Milliarden zusammen. Das ist der Preis, den man dafür gezahlt hat!

Nein, das muss man differenzieren! Ich sehe nicht, dass…

Aber das ist der Preis, den wir für die Demokratie bezahlt haben! Natürlich. Die Tatsache, dass es fünf Milliarden Menschen gibt, die überhaupt nichts besitzen, ist der Preis, der für deine kleine abendländische Demokratie gezahlt werden musste.

Aber ich mag meine kleine Demokratie.

Ja, und dafür nimmst du das in Kauf. Findest Du etwa, dass das normal ist, dass der Rest der Menschen gar nichts besitzt?

Nein, hör mir doch zu! Ich kämpfe ja dagegen… aber ich versuche das voneinander zu trennen.

Du kannst das nicht voneinander trennen! Die Privilegien des Abendlandes beruhen auf der Unterdrückung der restlichen Welt! Daran ist nichts zu rütteln.

Aber wir leben in der abendländischen Welt, auch Du. Du kannst dich frei bewegen usw.

Umso besser, aber ich versuche diese Freiheit zumindest zu nutzen, um eine Idee zu entwickeln, die den anderen zugute kommt.

Warum glaubst Du, dass ich anders denke?

Weil Du die Kritik dieser Verbindung von Kapitalismus und Demokratie nicht konsequent zu Ende führst!

Ja, vielleicht.

Es ist so. Ich kann Dich ja verstehen. Die meisten Leute, mich selbst eingeschlossen, hängen sehr an den demokratischen Freiheiten des Abendlandes. Aber trotzdem muss man irgendwann begreifen, dass das eine Sackgasse ist. Es gibt genau genommen keine Freiheit des Denkens. In Frankreich befinden sich alle sogenannten linken Zeitungen, wie le Monde oder Libération, in unmittelbarem Besitz großer französischer Kapitalisten. Unmittelbar! Und mit den großen Fernsehsendern wie Canal+ oder France 1 ist es dasselbe. Das ist eine viel zu beschränkte Form des Ganzen. Damit es Konkurrenz geben kann, braucht es natürlich ein wenig Freiheit, das ist klar. Aber diese Freiheit ist eine trügerische Freiheit. In Wahrheit ist es bloß die Freiheit dessen, der Geld hat, gegenüber dem, der keins hat.

Genau, das, was man Freiheit nennt, was man als die positiven Werte unseres Lebens, unserer Gesellschaft betrachtet, dient in Wahrheit dazu, die Menschen für die globalisierte Produktion abzurichten. Die Reise- und Bewegungsfreiheit ist notwendig, damit die Arbeitskräfte, Ideen und Technologien sich entsprechend verteilen und in Umlauf gebracht werden können. Das ist übrigens auch ein Aspekt, für den man die europäische Gemeinschaft kritisieren kann. Was ich nun gerne wissen würde ist, wie man sich dagegen eine post-kapitalistische Gesellschaft und eine post-kapitalistische Produktionsweise vorstellen soll. Ich würde es ja auch gerne sehen, dass die demokratischen Freiheiten, von all diesen Effekten, von denen du gesprochen hast, befreit wären. Natürlich! Deswegen mache ich ja diese Arbeit. Aber für mich ist das eine Utopie. Anders ausgedrückt: Ich kann weder im Horizont meiner eigenen Erfahrung noch wenn ich mir die Kräfte anschaue, die sich heute gegen den globalisierten Kapitalismus zur Wehr setzen, eine wirklich positive Alternative erkennen.

Es gibt Momente in der Geschichte, in denen Kräfte existieren, denen man sich anschließen kann, aber heute sind wir in einer Situation, wo man sich zuerst entscheiden muss, was man will, was man sich wünscht, wonach man sich sehnt! Man muss das mithilfe der Vernunft entscheiden, ganz rational, aber entscheiden muss man sich.

Aber wofür muss man sich entscheiden?

Man muss sich dafür entscheiden, der kapitalistischen Moderne den Kampf anzusagen.

Ok, Ich verstehe. Aber, wenn ich mich dieser Verknüpfung von Kapitalismus und Demokratie entziehen will, wie Du das beschreibst, dann ist das doch keine rein intellektuelle Angelegenheit, nicht wahr? Natürlich könnte ich einfach sagen: „Ich entziehe mich…“

Aber Du kannst dich ja gar nicht entziehen! Die Straße, auf der Du gehst, ist kapitalistisch! Alles, was Du tust, ist vom Kapitalismus durchdrungen. Das ist die allgemeine Struktur unserer Gesellschaft! Der Kapitalismus ist keine unabhängige Sache! Er ist nicht etwas, was außerhalb von dir passiert. Wir nehmen jeden Tag Teil am kapitalistischen Leben der Gesellschaft!

Was verlangst Du also? Du läufst doch auch durch die Straßen!

Ich verlange die Abschaffung der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft!

Ohne zu wissen, wie man die Gesellschaft organisieren soll? Ich fürchte, dass man auf diese Weise wieder in totalitäre Strukturen zurückfällt, so wie wir es in den sozialistischen Staaten gesehen haben.

Du kannst zum jetzigen Stand der Entwicklung, nachdem ein erster Gegenversuch gescheitert ist, keine Garantien verlangen. Man muss zuerst zu der Überzeugung gelangen, dass eine Veränderung unausweichlich ist. Die Herausforderung dieser anbrechenden Epoche besteht darin, eine neue Moderne zu erfinden, die vom Kapital befreit ist. Denn andernfalls, wenn man sich innerhalb der Grenzen des globalisierten Kapitalismus bewegt, wird der Gegenschlag gegen den Faschismus immer sehr schwach ausfallen, genau wie man es heutzutage beobachten kann. Er ist deswegen so schwach, weil man dem Faschismus eine vermeintlich andere Identität entgegensetzt, in der sich aber keiner wirklich wiederfindet!

Wie würdest Du diesen Faschismus definieren?

Als Faschismus bezeichne ich jede politische Vision, die beansprucht, den Kapitalismus nicht mit der Moderne, sondern mit der Tradition zu verbinden. Ein Faschist ist also jemand, der vollkommen innerhalb der kapitalistischen Welt verbleibt und keine ökonomische Alternative anzubieten hat. Solche Strömungen sind in den europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten stark ausgeprägt. Wenn sie in den arabischen Staaten vorkommen, dann nehmen sie die Form islamistischer Ideologien an. In Amerika verbinden sie sich mit dem Protestantismus. Die Religion ist also nichts als ein rhetorisches Element, das in gewisser Weise den Willen zur politischen Macht, den Willen zum politischen Wandel transportiert und sich mit einer Propaganda verbindet, die sich auf die Tradition stützt und der abendländischen Moderne entgegensetzt.

Du meinst also, man sollte die islamistische Propaganda einfach hinnehmen?

Aber welche islamistischen Propaganda denn?

Naja, sie sagen, dass der Islam sich ausbreiten müsse und…

Aber weißt Du überhaupt, was Du da sagst? Bist Du nicht gerade selber im Begriff zu sagen, dass man die abendländischen Werte verbreiten müsse und dass die Frauen im Orient kurze Röcke tragen sollten?

Nein.

Nein? Was willst Du denn sonst damit sagen?

Mir ist das ganz egal…

Es ist dir nur egal, solange sie bei sich bleiben, Du willst aber nicht, dass sie hierher kommen.

Ich möchte, dass die Frauen hier kurze Röcke tragen können.

Und warum?

Weil ich das schön finde.

Das ist aber wirklich eine bedeutsame politische Position! Lass doch die Leute gewähren, die wollen, dass die Frauen lange Röcke tragen! Bitte, das wäre viel demokratischer! (lacht)

Du hast angefangen mit den kurzen Röcken. Mir ist das wirklich egal.

Ich bin nicht dagegen, dass man kurze Röcke trägt, aber auch nicht dagegen, dass man lange Röcke trägt! Ich bin nicht dafür, dass man Kopftuch trägt, ich bin aber auch nicht dagegen, dass man Kopftuch trägt. Es ist mir wirklich vollkommen egal! Der Krieg der Kulturen, das ist ein Witz! Man redet immer vom Islam, dabei gibt es in Amerika christliche Gruppen, die Morde an Medizinern verüben, weil sie Abtreibungen vornehmen! Warum redet man also nicht von christlichem Terrorismus? Es gibt keinen Krieg zwischen dem Christentum und dem Islam, das ist Unsinn! Das ist der Krieg einiger Faschisten mit religiösen Ideologien – wie sie die Faschisten im Übrigen schon immer gehabt haben, im spanischen Bürgerkrieg gab es etliche von dieser Sorte –, es ist ein politisches Problem! Ein politisches Problem, das darin besteht, allmählich eine andere Stimme zu entwickeln, eine andere Art, die moderne Gesellschaft kritisch zu denken, die nicht der reaktionären Kritik der christlichen Tea Party in Amerika entspricht – mitsamt Donald Trump, der meiner Meinung nach um einiges gefährlicher ist als jeder Islamist.

Du siehst da also gar keine Gefahr?

Überhaupt nicht! Was denn für eine Gefahr? Was soll denn passieren? Glaubst Du etwa, dass die Franzosen jetzt massenweise zum Islam übertreten?

Nein…

Na also! Was soll dann die Gefahr sein? Erklär mir, worin die Gefahr besteht! Die Gefahr besteht darin, dass es zu viele Idioten gibt, die denken, dass es da eine Gefahr gibt. Das ist die Gefahr!

Aber was ist mit all den Attentaten, die Attentate auf Charlie Hebdo, auf das Bataclan usw.?

Die Attentate müssen natürlich geahndet werden! Die Attentate, die Morde usw. das sind die Taten von Faschisten, von islamistischen Faschisten, das ist alles. Ich bin dafür, dass diese Taten strengstens bestraft werden, keine Frage!

Da sind wir uns also einig!

Wir sind uns einig, abgesehen davon, dass ich der Meinung bin, dass die Forderungen nach der Bestrafung dieser Faschisten, die in der aktuellen Situation laut werden, Teil einer gefährlichen Propaganda sind, die der extremen Rechten in die Hände spielt, weil es eine identitäre Propaganda ist!

Selbst hier bei uns, als es die Anschlägen in Frankreich gab, was hat die Regierung da gesagt? Sie hat die Trikolore hochgehalten und von „unseren Werten“ gesprochen. Man kehrt also zum Nationalismus und zu den Werten zurück. Was glaubst Du, wird man damit gegen einen abgebrühten islamistischen Faschisten ausrichten? Überhaupt nichts! Die pfeifen doch auf Frankreich! Außerdem ist die kapitalistische Moderne ihr Feind. Man führt aktuell einen Kampf auf dem Feld der Identitäten. Wenn man sich auf dieses Feld begibt und den berühmten „Krieg der Kulturen“ zwischen dem Abendland und seinen Widersachern ausruft, dann wird man dem Faschismus Tür und Tor öffnen! Denn im Lager derer, die auf die nationalen, die abendländischen, die christlichen Werte usw. pochen, wirst Du immer Leute finden, die noch viel reaktionärer sind als Du!

Das stimmt wohl.

Der Faschismus ist also im Grunde eine aktuelle Version des Kapitalismus, die sich auf die Tradition stützt. Das gibt ihm in gewisser Weise die Mittel an die Hand, sich der Jugend gegenüber als ein befreiender anti-abendländischer Kapitalismus darzustellen. Diese Haltung findet man beim IS und den islamistischen Terroristen, aber man findet sie genauso in Ungarn oder in Polen! Nur eben in Polen in katholischer und in Ungarn in nationalistischer Ausprägung. Für mich gehören all diese Leute zusammen. Der islamistische Terrorismus, Polen, Ungarn, Donald Trump, Le Pen – sie gehören alle zum gleichen Lager! Und man muss sich darüber im Klaren sein, dass diese Bewegungen wachsen. Sie wachsen deswegen, weil die Moderne, in ihrer rein kapitalistischen Form, insbesondere der Jugend nichts Interessantes zu bieten hat! Kohle verdienen: Das ist letztlich das einzige, was sie ihr anzubieten hat. Das ist alles! Und kurze Röcke tragen! Aber Kohle verdienen und kurze Röcke tragen das ist ein ziemlich dürftiges Programm!

Diese Abwesenheit von Alternativvorschlägen ist Deiner Meinung nach also einer der Gründe, die junge Menschen für dieses Denken empfänglich machen?

Natürlich, absolut! Und ich kann sie verstehen. Wenn ich heute jung wäre, würde ich mir vielleicht auch sagen: „Den Kapitalismus wird es immer geben, es gibt keine Alternative.“ Ich hätte also die Wahl, mich entweder auf die Seite der Identität zu flüchten – auf die Seite der religiösen, spirituellen, nationalistischen Identitäten usw. – oder ein kapitalistischer Zyniker zu werden. Also spiele ich eben das Spiel: Geld ist das einzige, was mich interessiert. Ich steche die anderen aus. Es gibt enorm viele junge Leute, die genau das tun. Oder ich werde Milliardär als Geschäftsführer eines Start-up Unternehmens. Vor dieser Wahl stehe ich. Es fehlt offensichtlich eine dritte Alternative. Ein Teil der Mittelklasse fühlt heute, dass der Kapitalismus in einer Krise steckt, dass sie bedroht ist und dass ihre demokratischen Freiheiten keineswegs garantiert sind. Ich glaube aber auch, dass ein Teil der Jugend in diese Richtung mobilisiert werden kann, auch deswegen, weil sie sich nach einer anderen Zukunft sehnt. Sie sehnt sich im Grunde danach, eine Form der Modernität zu erfinden, die nicht verbrecherisch ist.


Auszüge aus Alain Badiou „Für eine Politik des Gemeinwohls“ im Gespräch mit Peter Engelmann. In der Übersetzung von Martin Born. Passagen Verlag, 2016.

In fortlaufender Kooperation mit dem Passagen Verlag publiziert das Magazin fair Texte aus aktuell erscheinenden Büchern des Verlages. Der Schwerpunkt liegt vor allem im Bereich der Philosophie. fair dankt dem Passagen Verlag für die Kooperation.

Alles, was Du tust, ist vom Kapitalismus durchdrungen. Das ist die allgemeine Struktur unserer Gesellschaft! Der Kapitalismus ist keine unabhängige Sache!  Er ist nicht etwas, was außerhalb von dir passiert.
Alain Badiou