Die Rituale der Transparenz

Jean Baudrillard

Die Ungewissheit der Existenz und zugleich die Besessenheit, den Beweis unserer Existenz zu erbringen, haben heute zweifellos größere Wichtigkeit erlangt als das eigentliche sexuelle Begehren. Besteht Sexualität darin, unsere Identität aufs Spiel zu setzen (bis hin zum Faktum der Kinderzeugung), dann sind wir nicht mehr im selben Maß dazu imstande, uns ihr hinzugeben, weil wir bereits wahrlich genug damit beschäftigt sind, unsere Identität zu bewahren, damit wir die Energie aufbringen, uns anderem zuzuwenden. Vor allem geht es uns darum, den Beweis unserer Existenz zu erbringen, selbst wenn diese keinen anderen Sinn hat, als genau das zu versuchen.

Sichtbar wird dies an den neuen Graffities in New York oder Rio. Die vorige Generation brachte Folgendes zum Ausdruck: „Ich existiere, ich heiße Soundso, ich lebe in New York.“ Sie waren befrachtet mit Sinn, wenn auch mit einem beinahe allegorischen: mit dem Namen. Die neuesten sind rein graphisch und nicht zu entziffern. Implizit drücken sie stets aus: „Ich existiere“, aber zugleich: „Ich habe keinen Namen, ich habe keinen Sinn, ich will nichts bedeuten.“ Sprechen müssen, während man nichts zu sagen hat. Diese Notwendigkeit ist sogar umso dringlicher, wenn man nichts zu sagen hat, so wie es umso dringlicher wird zu existieren, wenn das Leben keinen Sinn mehr hat. Mit einem Mal wird aus der Sexualität etwas Zweitrangiges, eine bereits luxuriöse Form der Transzendenz, der Existenzvergeudung, während die absolute Dringlichkeit ganz einfach darin liegt, diese Existenz zu verifizieren.

Eine Szene aus einer hyperrealistischen Ausstellung im Beaubourg kommt mir wieder in den Sinn: Es geht um ganz realistische Skulpturen, oder vielmehr um Mannequins, fleischfarben und vollkommen nackt in einer eindeutigen banalen Position. Das Unmittelbare eines Körpers, der nichts besagen will und der nichts zu sagen hat, der ganz einfach da ist, löst bei den Betrachtern mit einem Mal eine Art Erstaunen aus. Die Reaktion der Leute war interessant: Sie beugten sich vor, um etwas zu sehen, die Körnung der Haut, die Schamhaare, alles, aber es gab nichts zu sehen. Manche wollten sogar danach greifen, um einen Beweis für die Wirklichkeit dieses Körpers zu erbringen, aber natürlich gelang das nicht, da ja alles bereits da war. Nicht einmal das Auge wurde dabei getäuscht. Wenn das Auge getäuscht wird, dann hat man bei der Begutachtung Spass am Raten, und selbst wenn man Sie nicht zu täuschen versucht, spielt bei der ästhetischen und taktilen Lust, die eine Form Ihnen verschafft, etwas wie Spürsinn immer eine Rolle.

Abgesehen von der außerordentlichen Technik, mittels der es dem Künstler gelingt, alle Anzeichen für den Spürsinn zu beseitigen, gibt es hier nichts zu sehen. Hinter der Wahrhaftigkeit der Haare bleibt nicht die leiseste Spur einer Illusion. Nichts mehr zu sehen: Eben deshalb beugen sich die Leute vor, kommen sie näher und wittern diese halluzinatorische, in ihrer Fraglosigkeit gespenstische Hyper-Ähnlichkeit. Sie beugen sich vor, um sich von der Wahrheit dieses verblüffenden Phänomens zu überzeugen: Ein Bild, auf dem es nichts zu sehen gibt.

Die Obszönität besteht in dieser Tatsache: Es gibt nichts zu sehen. Sie ist nicht sexuell, sondern gehört zur Ordnung des Realen. Nicht aus sexueller Neugierde beugt sich der Betrachter vor, sondern um sich vom Gewebe der Haut, vom unendlichen Gewebe des Realen zu überzeugen. Vielleicht besteht unsere wahre sexuelle Betätigung heute genau darin: Sich bis zum rauschhaften Taumel von der nutzlosen Objektivität der Dinge überzeugen.

Sehr häufig hat unsere erotische und pornographische Bilderfabrik, dieses ganze Arsenal von Brüsten, Pos, Geschlechtsteilen, keinen anderen Sinn als folgenden: die nutzlose Objektivität der Dinge zum Ausdruck zu bringen. Die Nacktheit dient nur noch dem verzweifelten Versuch, die Existenz von irgendetwas hervorzuheben. Der Arsch ist nur noch ein special effect. Das Sexuelle ist nur noch ein Ritual der Transparenz. Früher musste man es verbergen, heute dagegen dient das Sexuelle dazu, das wenige an Realität zu verbergen, und natürlich hat auch es selbst etwas von dieser körperlosen Leidenschaft angenommen.

Was macht nun die Faszination dieser Bilder aus? Gewiss nicht die Verführung (die Verführung ist immer eine Herausforderung für diese Pornographie, für diese nutzlose Objektivität der Dinge). Eigentlich betrachten wir sie nicht einmal. Damit es überhaupt einen Blick gibt, muss ein Objekt sich verschleiern und entschleiern, muss es jeden Augenblick verschwinden; der Blick ist deshalb gewissermaßen unstet. Dem entgegen sind diese Bilder nicht in ein Spiel von Auftauchen und Verschwinden eingebunden. Der Körper ist bereits da, ohne den Funken einer möglichen Abwesenheit, im Zustand radikaler Nüchternheit – das heißt reiner Präsenz. Bestimmte Partien sind in einem Bild sichtbar und andere nicht, durch die sichtbaren Partien werden die anderen unsichtbar, rhythmisch wechseln Auftauchen und Geheimnis einander ab, eine Wellenbewegung des Imaginären. Hier dagegen ist alles in gleicher Weise sichtbar, alles teilt denselben, jegliche Tiefe entbehrenden Raum. Und diese Faszination entspringt genau dieser Körperlosigkeit (Ästhetik der Körperlosigkeit – davon spricht Octavio Paz). Faszination, das ist jene körperlose Leidenschaft eines Blicks ohne Objekt, eines Blicks ohne Bild. Seit langem sind unsere Medienspektakel über den Punkt hinaus, noch in Erstaunen zu versetzen – in Erstaunen über jene Übersteigerung bis hin zu gläserner Durchsichtigkeit des Körpers, bis hin zu gläserner Durchsichtigkeit des Geschlechts, in Erstaunen über eine leere Szene, auf der sich nichts ereignet und von der der Blick dennoch erfüllt wird. In Erstaunen auch über Information oder Politik: Nichts ereignet sich mehr, und dennoch sind wir davon übersättigt.

Wünschen wir diese Faszination? Wünschen wir diese pornographische Objektivität der Welt? Wie soll man das wissen? Zweifellos gibt es einen kollektiven Rausch der Flucht nach vorn in die Obszönität einer reinen und leeren Form, in der sich gleichzeitig das Maßlose des Sexuellen und seine Entwertung, das Maßlose des Sichtbaren und seine Degradierung darbieten. Diese Faszination berührt natürlich auch die moderne Kunst, deren Objektives buchstäblich darin besteht, dass nichts mehr zu erblicken ist, dass sie sich jeder Verführung des Blickes versagt. Die moderne Kunst betreibt nur noch die Magie ihres Verschwindens.

Aber diese Obszönität und Gleichgültigkeit führen nicht zwangsläufig an einen toten Punkt. Sie können wiederum zu kollektiven Werten werden; überdies lässt sich in ihrem Umkreis das Aufleben neuer Rituale beobachten, es sind die Rituale der Transparenz. Außerdem spielen wir uns die Komödie der Obszönität und der Pornographie sicher nur so vor, wie andere sich die Komödie der Ideologie und der Bürokratie vorspielen (das gilt für den gesamten Osten) oder wie die italienische Gesellschaft sich die Komödie der Verwirrung und des Terrorismus vorspielt. In der Werbung wird die Komödie des weiblichen Striptease gespielt (weshalb jedes feministische Vorgehen gegen diese „Prostitution“ naiv ist). Auch dabei handelt es sich um ein Ritual der Transparenz. Sexuelle Befreiung, allgegenwärtige Pornographie, Information, Teilhabe, Meinungsfreiheit – wenn dies alles wahr würde, dann wäre es nicht zu ertragen. Wenn dies alles wahr würde, hätten wir wirklich die Obszönität, das heißt die nackte Wahrheit, die wahn- sinnige Anmaßung der Dinge, ihre Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Ihr Schicksal bewahrt uns glücklicherweise davor, denn auf dem Gipfelpunkt angekommen, beim Versuch, sich zu verifizieren, kehren sich die Dinge um und fallen ins Geheimnis zurück. (…)

Textauszug aus: Jean Baudrillard, Das Andere Selbst, herausgegeben von Peter Engelmann, Passagen Verlag, 2016 (3. Auflage).

Diese Faszination berührt natürlich auch die moderne Kunst, deren Objektives buchstäblich darin besteht, dass nichts mehr zu erblicken ist, dass sie sich jeder Verführung des Blickes versagt. Die moderne Kunst betreibt nur noch die Magie ihres Verschwindens.

Jean Baudrillard