Michelangelo Pistoletto, One and One makes Three, Basilica di San Giorgio, Venedig, 2017, Foto: Thomas Redl

Das verlorene Selbst

Omnipräsenz und Omniabsenz im digitalem Rausch

Ekstase der Kommunikation

Als User der digitalen Medien sind wir Teil eines neuen Nervensystems, Teil eines unsichtbaren Netzes, das sich über den Planeten spannt. In permanenter Online-Schaltung sind wir – jeder in seiner Kapsel isoliert – in onmipräsenter Kommunikationsbereitschaft. Durch diese Vernetzung sind wir ortsungebunden geworden, quasi ortsfremd, und zeitungebunden, das heißt aus den natürlich örtlichen und zeitlichen Rhythmen herausgehoben. So sind wir im Datennetz omnipräsent und in der Welt der Orte und Körper gleichzeitig omniabsent. Damit wurde das Gesetz des Tausches von Werken abgelöst durch das Gesetz des Tausches von Zeichen. Wir befinden uns, wie Jean Baudrillard das in seinem Standardwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“ formulierte, in der dritten Ordnung der Simulakren: – die erste Ordnung war die Imitation als bestimmendes Schema seit der Renaissance bis zur französischen Revolution; – die zweite Ordnung war die Produktion als bestimmendes Schema des industriellen Zeitalters; – die dritte Ordnung ist die der Simulation, die durch den Code bestimmt ist.1
Nun ist der Code mit dem wir heute kommunizieren ein rein binärer und wir simulieren über diesen Code Tauschwerte, die keine Referenzialität mehr besitzen zu gesellschaftlichen, politischen und religiösen Wertestrukturen. Somit ist der Tausch und die Struktur des Tausches referenzlos geworden und ein reines Simulakrum. Was bleibt, ist der artifizielle Rausch, die Ekstase des Tausches. Die Merkmale dieses Rausches zeigen sich in unserer Gesellschaft unter anderem besonders deutlich in der Finanzwirtschaft und im Kunstbetrieb. An den internationalen Börsen werden abstrakte Dimensionen von Geldströmen quer über den Globus gehandelt, die den Bezug zur Realwirtschaft gänzlich verloren haben (und das obwohl die Realwirtschaft massiv von den Börsenbewegungen betroffen ist). Im Kunstbetrieb werden in rein spekulativer Form Bilder mit millionenhohen Geldbeträgen gleichgesetzt. So stellt die Kunst, die in dieser Form gehandelt wird, das beste Abbild dar für die Abstraktion des Geldes. Jedoch taucht heute im Kunstbetrieb noch ein neues interessantes Phänomen auf: Derzeit ist jene Kunst am sichtbarsten und damit am erfolgreichsten, die als reines Simulakrum des Zeichens die Ekstase des Tausches am besten beherrscht.

Das Werk ohne Werk

Ein besonderes Merkmal dieser Entwicklung ist, dass das Kunstwerk keiner Entsprechung ihrer visuellen Form auf der Ebene der materiellen Präsenz mehr bedarf. Das abgebildete Werk benötigt das reale Werk nicht mehr. Es ist als reiner Code, als reines Zeichen sich selbst genug. Steht man heute vor Werken der zeitgenössischen Kunst, ist es oftmals so, dass das Original eigenartig leer und flach wirkt, in der Reproduktion jedoch entfaltet es erst seine Präsenz. So verhandeln wir heute nicht mehr die Aura des Originals (wie Walter Benjamin2 sie beschreibt), sondern vielmehr die Aura der Reproduktion. Das Werk bedarf der Abbildung, die Abbildung benötigt aber nicht mehr das Originalwerk.
Die Fragen, die daraus resultieren, sind vielfältig: Verlieren wir den Realwert des Werkes? Und verlieren wir damit als Betrachter auch den direkten Kontakt und Zugang zu unserer unmittelbaren Umwelt, zu unserem unmittelbaren Nächsten? Lässt es sich noch im Realraum verharren, wenn die Beschleunigung und die Ekstase des Tausches alles mit sich fortzureißen droht?

Digitales Dauerrauschen

Das digitale Dauerrauschen, dem wir heute ausgesetzt sind, erzeugt eine neue Form der Abstraktion, eine digitale Abstraktion des Bildes. Das klassische Gedächtnis in Form von Bildern ist hier obsolet, da jedes Bild im Datenstrom im Moment seiner Erscheinung schon gesehen ist, nur um als déjà vu sofort wieder vergessen zu werden. Somit ist auch die Erzählung, die immer auch eine Erzählung in Bildern ist, ohne Funktion und es entsteht eine Kultur ohne Gedächtnis, eine Kultur der Amnesie. Paul Virilio beschreibt dies in treffender Weise: „Eine Kunst jenseits des Blickfeldes, oder, wenn man so will, eine Kunst im senkrechten Kameraschwenk, in der das Virtuelle die Wirklichkeit überholt, und zwar im Zuge einer Beschleunigung, die nicht mehr wie einst bei den Avantgardisten eine Flucht nach vorn ist; denn diesmal ist es eine Flucht zum Zenit. Es ist ein Aufwärtsfall in perspektivenloser Perspektive, in der Perspektive nämlich einer optisch korrekten Tyrannei, in der die Gleichschaltung multipler Präsenz (d.h. Telepräsenz) einen rauschähnlichen Empfindungsstupor induziert und jede Repräsentation, gleich ob ästhetischer oder politischer Natur, weit hinter sich lässt.“ 3 Eine Kultur ohne Gedächtnis ist gleichzeitig eine Kultur ohne Geschichtsbewusstsein, in der der Einzelne sowie auch das Kollektiv in den abstrakten Raum der Gegenwart ohne Dauer hineingeworfen ist, ohne Anbindung an eine Vergangenheit und ohne Verbindung zu einer möglichen Zukunft.

Das verlorene Selbst

Degradiert zum Waren- und Bildkonsumenten ist der Mensch in unserer Welt den Gesetzmäßigkeiten des reinen Tausches ausgeliefert. Dies gilt für alle Bereiche des Güterhandels genauso wie für die Bereiche des sozialen Agierens. Diesen Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegt die Struktur des globalen Kapitalismus, der nichts anderes Reales mehr zulässt als einzig den abstrakten Wert des Geldes. Sobald aber das Leben nicht mehr bestimmt ist von der Suche nach dem eigentlichen Realen, nach dem eigentlich Wirklichen, wird es form- und strukturlos. Es wird zu einem Leben, das von Zerstreuung zu Zerstreuung irrt, und das auf die Zersetzung der existenziellen Substanz zusteuert. Es bewegt sich in einem undefiniertem Raum – in einem Zustand der Omniabsenz.
Wenn wir in den Strukturen des reinen Kapitalismus funktionieren sollen – im Rausch des reinen Tausches –, müssen wir zu reinen Konsumenten werden und somit auf alles Reale verzichten. Wenn aber noch ein Anspruch besteht auf das Reale, dann kann man sich nicht mit den Bedingungen des Kapitalismus zufrieden geben. Man fordert, dass das Reale in Erscheinung tritt und nicht bloß dessen Schein, der ein Zeichen ohne Referenz ist. Mit diesen Anspruch auf das Reale ist man aber kein guter Konsument mehr und somit kein funktionierendes Teil unserer herrschenden gesellschaftlichen Struktur. In unserer rein materiellen Welt gibt es tatsächlich nichts anderes zu tun als herumirren, bis man eine kleine leere Ecke gefunden hat, in der man seine niedere Korruptheit einrichten kann – und sei diese auch nur gegen sich selbst gerichtet, gegen das eigene Wissen um das eigentlich Reale.4

Bietet uns die Kunst und andere Kulturpraktiken noch einen Raum an, der es uns ermöglicht uns selbst zu begegnen, unserem eigentlichen Realen, so muss dies eine Kunst sein, die nicht instrumentalisiert ist von den herrschenden Systemen. Eine Kunst, die einen alternativen Raum als Antipode darstellt gegenüber dem reinen Simulakrum. Eine Kunst, die einen Raum öffnet, der seine Belegung erst durch den individuellen Benützer erfährt – einen Raum, den der Einzelne für sich beschreiben kann und wo er nicht als verlorenes Selbst identitätslos zurückgelassen ist. Bis dahin warten wir in einem Schwebezustand zwischen Omnipräsenz und Omniabsenz auf die Rückkehr des eigentlich Realen.

Thomas Redl

1) Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Matthes & Seitz Berlin, 2011, S. 92
2) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, erste deutsche Ausgabe 1935
3) Paul Virilio: Die Verblendung der Kunst, Passagen Verlag, 2016, S. 84-85
4) Alain Badiou, Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, Passagen Verlag, 2008, S. 52 ff

Das digitale Dauerrauschen, dem wir heute ausgesetzt sind, erzeugt eine neue Form der Abstraktion, eine digitale Abstraktion des Bildes. Das klassische Gedächtnis in Form von Bildern ist hier obsolet, da jedes Bild im Datenstrom im Moment seiner Erscheinung schon gesehen ist, nur um als déjà vu sofort wieder vergessen zu werden. Somit ist auch die Erzählung, die immer auch eine Erzählung in Bildern ist, ohne Funktion und es entsteht eine Kultur ohne Gedächtnis, eine Kultur der Amnesie.